Dokumentation der Tagung „Praxis und Perspektiven des Bürgergeldes“ (Nov. 2023)

Am 2.11. und am 3.11.2023 findet in Berlin die von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt geförderte Tagung „Praxis und Perspektiven des Bürgergeldes“ statt. An der Tagung nehmen 26 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet teil, die ganz überwiegend im Koordinierungsausschuss gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOA) vertreten sind. Die Teilnehmenden arbeiten in gewerkschaftlichen Erwerbsloseninitiativen, Beratungsstellen für Erwerbslose und prekär Beschäftigte sowie unabhängigen, aber gewerkschaftsnahen Erwerbsloseninitiativen mit.

Im Mittelpunkt der Tagung steht das Thema „Praxis und Perspektiven des Bürgergeldes“. Einleitend referiert dazu Annika Klose, SPD (MdB und Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales) des Deutschen Bundestags. An dieses Impulsreferat schließt sich eine engagierte Diskussion um aktuelle Probleme des Bürgergeldes und seiner Verwaltung durch die Jobcenter an, aus der auch Forderungen für dringend notwendige Verbesserungen ableitbar sind.

Für Frau Klose stellt die Einführung des Bürgergeldes gegenüber „Hartz IV“ einen klaren Kulturwandel dar. Ziel der Ampelregierung sei es gewesen, wegzukommen von der vorherigen Misstrauenskultur gegenüber Erwerbslosen. Die Briefe des Jobcenters an sie sollten daher zunächst ohne Drohkulisse auskommen, einleitend gehe es um eine Feststellung, was eine antragstellende Person könne und was sie brauche. Auf dieser Grundlage werde dann ein Kooperationsplan des Jobcenters mit dem Betroffenen erarbeitet – auf Augenhöhe und in verständlicher Sprache. Falls es nicht zur Einigung komme, gebe es außerdem einen Schlichtungsmechanismus.

Mit der Abschaffung des Vermittlungsvorrangs sei ferner die Idee verbunden, dass die Betroffenen wieder eine Perspektive bekommen müssten, nicht nur eine kurzfristige Lösung, die dann aber nicht lange trage, so Annika Klose weiter. Arbeitslose seien oft aufgrund fehlender bzw. falscher Qualifikation arbeitslos, zudem hätten viele gesundheitliche Probleme, so dass sie nicht mehr in ihrem bisherigen Beruf arbeiten könnten und für viele Stellen, die körperlich anstrengende Arbeit verlangten, nicht in Frage kämen. Deshalb müsse mit Weiterbildung u. a. Eingliederungsmaßnahmen in die Betroffenen investiert werden. Motiviert werden sollten die Betroffenen nicht mehr vor allem durch Sanktionen, sondern durch positive Anreize, d. h. einem Zuschlag für Weiterbildungswillige und verbesserten Erwerbsanreizen durch höhere Einkommensfreibeträge. Gerade bei letzterem sei viel geschehen, gerade auch für Schüler*innen, z B. durch Nichtanrechnung von Einkommen aus Ferienjobs, für Auszubildende und für Erwerbstätige mit aufstockendem Bürgergeld durch Erhöhung der Freibeträge vom Erwerbseinkommen.

Eine komplette Abschaffung der Sanktionen sei in der SPD nicht durchzusetzen, erst Recht nicht innerhalb der Ampelkoalition. Jedoch sei es in Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gelungen Sanktionen auf maximal 30% des Regelsatzes zu begrenzen, eine Härtefallregelung zu schaffen und die Dauer der Sanktionen zeitlich zu staffeln (erste Sanktion gilt nur für einen Monat, zweite Sanktion für zwei und dritte oder weitere Sanktion ist für drei Monate wirksam).

Was die Höhe des Regelsatzes anbelangt, so sieht Annika Klose da für die Zukunft noch „Spiel nach oben“. Es treffe zu, dass es willkürlich anmutende Kürzungen bei Verbrauchspositionen im aktuellen Statistikmodell zur Berechnung der Regelsatzhöhe gebe. Auch sei z. B. die Heranziehung der Verbrauchswerte der unteren 30% der Einkommenspyramide anzustreben statt der bisherigen unteren 20%. Doch in der aktuellen Regierungssituation sei mit der FDP nur ein Inflationsausgleich bei der Regelleistung drin gewesen, mehr hätten SPD und Grüne nicht erreichen können.

In der Diskussion kritisieren Tagungsteilnehmer*innen die drohenden Kürzungen im kommenden Bundeshaushalt beim Eingliederungstitel, insbesondere durch Umwidmung von Mitteln für die Eingliederung Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt zugunsten von Mittel für Personal und Verwaltungskosten der Jobcenter. Dies konterkariere die im Rahmen der Bürgergeld-Reform vorhandenen guten Ansätze. Insbesondere bei den Eingliederungszuschüssen nach § 16 e und nach $ 16 i SGB II werden empfindliche Lücken gerissen, so die Kritik.

Dazu antwortet Annika Klose, dass allen in der SPD daran gelegen sei die Mittelkürzung zurückzunehmen und die Bundestagsabgeordneten die anstehenden Haushaltsberatungen dazu auch nutzen wollten. Allerdings sei es nicht möglich die gesamte 1 Mrd. € aufzubringen, die fehle, aufgrund des Personalbedarfs der Jobcenter und der Auswirkungen der Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst. Die von einem Mitglied des KOA ins Spiel gebrachte Aufhebung der gegenseitigen Deckungsfähigkeit zwischen Geldern für Eingliederungsmaßnahmen und den Personalkosten der Jobcenter selber könne es nicht geben, da sonst nicht genügend qualifiziertes Personal in den Jobcentern finanziert werden könne, meint Frau Klose.

Was die Reformen im Bereich Arbeitsvermittlung betreffe, so erkennen eine Reihe von KOA-Mitgliedern Verbesserungen in Folge der Einführung des Bürgergeldes. Doch gebe es auch da noch einiges zu tun, beispielsweise ein Unterlassen der Vermittlung in Minijobs oder untertarifliche Bezahlung. Auch die Qualität der angebotenen Weiterbildungsmaßnahmen sei durchaus verbesserungsfähig, daran hapere es oft genug. Das Personal in den Jobcentern sei zudem das gleiche wie vor der Reform geblieben. Die Missbrauchskultur im Jobcenter habe sich deswegen nicht wirklich geändert. Es bedürfe dringend interner Schulungen des Personals, um eine „Augenhöhe“ zu den Betroffenen herzustellen.

Die Anwesenden kritisieren ebenso die weiter unzureichende Höhe der Regelleistung. Die ist für sie viel zu niedrig, um gegen Armut wirksam zu schützen. Ohne bedarfsdeckende Regelsätze könne man „Hartz IV“ nicht überwinden. Es bräuchte dringend eine deutliche sofortige Erhöhung der Regelleistung. Des weiteren sollten Stromkosten, die bisher nur aufgrund unrealistisch niedriger Verbrauchsmengen berücksichtigt werden, aus der Regelleistung herausgenommen und in Zukunft als Bestandteil der Kosten der Unterkunft in angemessenem Umfang übernommen werden. Die Art und Weise, wie die Höhe des Regelsatzes statistisch abgeleitet wird, sei zudem weiter kritikwürdig, nicht zuletzt, weil dabei bestimmte Bedarfspositionen im Rahmen des Statistikmodells einfachkleingerechnet oder gleich ganz gestrichen werden.

Bei den Kosten der Unterkunft hat es zwar zunächst eine deutliche Entspannung der Situation durch Einführung einer einjährigen Karenzzeit für alle Betroffenen gegeben, in der die Kosten der Unterkunft für alle Betroffenen in voller Höhe übernommen werden, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Doch läuft diese Karenzzeit für viele Betroffene schon zum 31.12.2023 aus, sofern sie bis dahin ihre Erwerbslosigkeit und/ oder Einkommensarmut nicht überwunden haben und weiter Leistungen nach dem SGB II beziehen müssen. Ab Anfang des kommenden Jahres droht für einen Teil der Betroffenen erneut die Gefahr einer so genannten „Wohnkostenlücke“.

Zudem gebe es nach wie vor viele prekäre Arbeitsverhältnisse. Die dort Beschäftigten seien dringend auf aufstockende Sozialleistungen angewiesen. Doch die Stigmatisierung von Menschen, die eigentlich anspruchsberechtigt wären, greife nach wie vor. Viele Leute, die eigentlich Anspruch hätten, würden nach wie vor nicht zum Amt bzw. Jobcenter gehen.

An letzterem Punkt der Stigmatisierung Betroffener setzt auch Annika Klose zum Schluss der gemeinsamen Diskussion noch einmal an. Sie betont, dass der Gegenwind bei Leistungsverbesserungen im Bürgergeld doch beträchtlich sei. Friderich März, Christian Lindner und andere Politiker und Politikerinnen sowie „Bild“ und andere Medien stigmatisierten immer wieder Arbeitslose pauschal als faul und arbeitsunwillig und wenden sich gegen jede Verbesserung. Dagegen müssten alle, die etwas für die Betroffenen erreichen wollten, in die öffentliche Debatte gehen und klar und laut der entsprechenden Stimmungsmache widersprechen. Da müssten wir alle noch besser werden. Ansonsten sei die Debatte für sie anregend und fair gewesen, so Frau Klose weiter. Die Rückmeldungen zur Praxis des Bürgergeldes habe sie interessiert, das werde sie mitnehmen.

In der anschließenden weiteren Tagung, die ohne Frau Klose fortgeführt wird, die die Veranstaltung verlassen muss, werden anhand der Berichte von Vertreter*innen des KOA aus den Regionen zudem weitere Probleme in der Praxis des Bürgergeldes deutlich. Dies betrifft beispielsweise die Tatsache, dass manche Jobcenter auch nach dem Ende der Corona-Krise noch immer keinen einfachen und Barriere-armen Zugang ins Amt gewährleisten. Ebenso wird deutlich, dass auch der Bereich der Mitwirkungspflichten unter die Lupe genommen werden muss. Es besteht die Gefahr, dass diese Pflichten von manchen Jobcenter-Mitarbeiter*innen als Sanktionsersatz verwendet werden, mit der möglichen Folge, dass Leistungen sogar ganz aufgehoben werden können.

Die Teilnehmer*innen der Tagung halten insgesamt außerdem weitere Verbesserungen beim Bürgergeld für unbedingt geboten, insbesondere auch eine deutliche Anhebung des Regelsatzes.

Die Tagung wurde gefördert durch:

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