Erste Hilfe für Sanktionierte

Was können Alg-2-Berechtigte, die aktuell von Kürzungen betroffen oder bedroht sind, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts tun, um wieder etwas mehr Geld in der Tasche zu haben?

Mit Urteil vom 5.11.2019 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die bisherigen Sanktionsregelungen im SGB II zu einem großen Teil als verfassungswidrig anzusehen sind (Aktenzeichen: 1 BvL 7/16). Das Urteil ist für Alg-2-Berechtigte sicher kein Erfolg auf ganzer Linie. Sanktionen bei „Hartz IV“ sind den Jobcentern nicht vollkommen verboten worden. Kürzungen bis zu 30% der Regelleistung hat das Verfassungsgericht weiter prinzipiell ermöglicht. Das Urteil gilt außerdem nur für einen Teilbereich der Sanktionen. Über die Sanktionen beim Verschwitzen eines Meldetermins – die mit weitem Abstand häufigste Sanktion – und über die besonders schlimmen Regelungen für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren hat das Gericht noch gar nicht geurteilt.

Dennoch bleibt festzuhalten: Das Verfassungsgericht hat die Höhe und die Dauer von Sanktionen in bestimmten Fällen begrenzt. Menschen, die aktuell von Kürzungen betroffen oder bedroht sind, haben daher verschiedene Möglichkeiten, um jetzt von der Entscheidung des Gerichts zu profitieren. Welche diese sind, wollen wir im Folgenden mit Hilfe von Mustertexten für die verschiedenen Gruppen zeigen.

  • 1.) Aktuelle Kürzung von mehr als 30% der Regelleistung, wenn der Bescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist (d. h. wenn er noch nicht einen Monat oder länger zugegangen ist): Wer über 24 Jahre alt ist und wem das Jobcenter mehr als 30% der Regelleistung kürzt oder demnächst kürzen will, der oder die kann sofort gegen den Sanktionsbescheid vorgehen. Denn das Verfassungsgericht hat die Rechtsgrundlagen für stärkere Kürzungen mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt. Wenn der Sanktionsbescheid noch nicht rechtskräftig geworden ist, bietet sich ein Widerspruch an, der etwa so aussehen sollte:Erste_Hilfe_Sanktionierte_1.doc
  • Sofern die Widerspruchsfrist bereits abgelaufen ist, aber die Kürzung noch läuft, müsste das Jobcenter eigentlich von sich aus für die Zeit ab dem Urteil die Kürzung auf 30% der Regelleistung verringern. Darauf sollten sich Betroffene aber nicht verlassen. Wir empfehlen einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen. Dann gilt nach § 40 SGB II, dass die Sanktion ab dem Tag des Urteils – also des 5.11. – auf 30% der Regelleistung verringert werden muss. Ein solcher Überprüfungsantrag könnte beispielsweise so aussehen:Erste_Hilfe_Sanktionierte_2.doc

  • 2.) Darüber hinaus hat das Verfassungsgericht auch gerügt, dass es keine Ausnahmeregelung für Fälle gibt, in denen eine Sanktion eine außergewöhnliche Härte für die davon Betroffenen darstellt. Das Jobcenter müsse prüfen, ob so ein besonderer Härtefall vorliege. Das Jobcenter muss also jetzt ein Ermessen ausüben, was es vor dem 5.11. noch nicht musste. Bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte muss der Sanktionsbescheid vollständig aufgehoben werden. Sanktionierte oder von Sanktionierung Bedrohte können nun eine außergewöhnliche Härte durch die Sanktion geltend machen. Je nachdem, ob die Widerspruchsfrist für den Sanktionsbescheid bereits abgelaufen ist, können sie dies im Wege eines Widerspruchs oder eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X einfordern (Mustertexte dazu unten). In der Begründung sollte angegeben werden, worin die außergewöhnliche Härte besteht. Die könnte beispielsweise darin bestehen, dass eine ohnehin schon bestehende konkrete Gefahr von Obdachlosigkeit oder Stromsperre erhöht würde oder dass dadurch ein Vergleich zum Erlass privater Schulden gefährdet wäre. Gleiches könnte auch gelten, wenn das Jobcenter nicht die vollen Kosten für Unterkunft und Heizung anerkennt, so dass Betroffene einen Teil ihrer Unterkunftskosten selber tragen müssen, ohne dies mit anrechnungsfreien Einkommen, einem Freibetrag für Erwerbstätige oder für ehrenamtlich Tätige o.ä. ausgleichen zu können. In diesem Zusammenhang kann auch ein wichtiges Argument sein, dass Kinder im Haushalt leben, die von den Kürzungen mitbetroffen wären, weil „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird.
  • Widerspruch:Erste_Hilfe_Sanktionierte_3_1.doc
  • Überprüfungsantrag:Erste_Hilfe_Sanktionierte_4_1.doc
  • 3.) Nachholen von Mitwirkungspflichten:Wenn die Sanktion darauf beruht, dass

    - jemand beispielsweise die Teilnahme an einer Maßnahme verweigert

    - oder die Maßnahme abgebrochen hat,

    - ohne dafür einen anerkannten “wichtigen Grund“ wie z.B. längere Krankschreibung

    oder objektive Ungeeignetheit der Maßnahme geltend machen zu können,

    - oder wenn z. B. zu wenig Bewerbungen vorgelegt wurden,

    so muss die SGB-2-Leistung wieder in voller Höhe erbracht werden, sobald sich Betroffene entschließen dem Druck nachzugeben. Das bedeutet laut Bundesverfassungsgericht, dass die Sanktion in solchen Fällen spätestens nach einem Monat aufgehoben werden muss. Betroffene sollten nach unserer Ansicht sofort schriftlich ein Ende der Sanktion einfordern. Sie sollten dabei darauf hinweisen, dass sie die verlangten Bewerbungen nachträglich vorgelegt haben oder jetzt doch an der Maßnahme teilnehmen werden. Sofern eine unmittelbare Erfüllung der Mitwirkungspflicht nicht mehr möglich ist, weil beispielsweise ein Einstieg in die laufende Maßnahme nicht mehr möglich ist, sollte glaubhaft versichert werden, dass er bzw. sie bereit ist, an der nächsten folgenden Maßnahme gleichen Typs teilzunehmen.

    Betroffene können wiederum tätig werden mit Hilfe eines Widerspruchs Erste_Hilfe_Sanktionierte_5_1.docoder eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X Erste_Hilfe_Sanktionierte_6_1.doc.

  • 4.) Für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 („U25er“) gelten besonders schlimme Sonderregelungen. Bei der ersten Sanktion sollen sie nach dem Gesetzestext des SGB II nur noch die Kosten der Unterkunft und allenfalls Lebensmittelgutscheine erhalten, bei einer zweiten Sanktion gar keine Leistungen mehr. Sie werden schlechter behandelt als Erwachsene, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund gibt. Allein deshalb bestehen erhebliche Verfassungsbedenken gegen die erwähnten verschärften Sanktionsregeln für U25er. Darüber hat das Bundesverfassungsgericht bisher noch nicht urteilen können. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 ergibt sich aber, dass den Jobcentern zurzeit Kürzungen von mehr als 30% der Regelleistung grundsätzlich verboten sind. Betroffene, die jünger als 25 Jahre alt sind, sollten daher in jedem Fall gegen die Kürzung vorgehen. Je nachdem, ob die Widerspruchsfrist bereits überschritten ist oder nicht, können sie dies mit einem Widerspruch Erste_Hilfe_Sanktionierte_7.doc oder mit einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X Erste_Hilfe_Sanktionierte_8.doc machen (siehe Mustertexte).
  • 5.) Meldeversäumnisse: Der ganz überwiegende Teil der Sanktionen des Jobcenters beruht darauf, dass Alg-2-Bezieher_innen einen Termin im Amt versäumen oder etwa nicht zu einer amtsärztlichen Untersuchung gehen. Die Kürzung beträgt in einem solchen Fall zwar zunächst „nur“ 10% der Regelleistung. Kommt allerdings binnen eines Jahres ein weiteres Terminversäumnis hinzu, erhöht sich die Sanktion auf dann 20% der Regelleistung. Im schlimmsten Fall können sich die Kürzungen auf bis zu 100% der Regelleistung aufsummieren. Auch über die Verfassungsmäßigkeit der auf Meldeversäumnisse folgenden Sanktionen hat das Verfassungsgericht bisher nicht entschieden. Allerdings folgt aus der o. g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 nach Ansicht der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen auf jeden Fall, dass den Jobcentern ein Aufsummieren der Kürzung über 30% der Regelleistung hinaus verboten ist. Betroffene sollten in diesem Fall unbedingt mit Widerspruch oder Überprüfungsantrag gegen die Kürzung vorgehen (Mustertexte dazu siehe unten). In vielen Fällen bestehen unabhängig von der Entscheidung des Verfassungsgerichts aber auch schon bei Kürzungen von 10% gute bis sehr gute Chancen auf erfolgreiche Gegenwehr. Betroffene sollten unbedingt sofort aktiv werden und sich dazu vor Ort von einer fachkundigen Beratungsstelle beraten und helfen lassen.
  • Widerspruch:Erste_Hilfe_Sanktionierte_9.doc
  • Überprüfungsantrag:Erste_Hilfe_Sanktionierte_9a.doc
  • 6.) Bis zur gesetzlichen Neuregelung: Was tun bei der Anhörung?

    Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung des Sanktionsrechts muss das Jobcenter die Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts zwingend beachten. Falls ihr noch keine Sanktion bekommen habt, aber vom Jobcenter angeschrieben werdet, weil dies prüfen will, ob gegen euch in näherer Zukunft eine Sanktion verhängt werden soll, so solltet ihr im Rahmen der Anhörung unter anderem auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verweisen. Beispielsweise, wenn das Jobcenter gegen euch eine Sanktion von mehr als 30% der Regelleistung verhängen will. Oder, indem ihr Gründe für eine besondere Härte der Sanktion (Kinder betroffen, drohende Überschuldung, drohende Obdachlosigkeit, o.ä.) bei euch anführt. Oder auch, indem ihr darauf verweist, dass ihr die von euch verlangte Mitwirkung bereits nachgeholt habet, indem ihr beispielsweise weitere Bewerbungen im Jobcenter vorgelegt habt.

Mustertext: Änderung der Eingliederungsvereinbarung (1-Euro-Job)

Der Mustertext kann eingesetzt werden, wenn ein nicht zusätzlicher 1-Euro-Job bevorsteht oder schon angetreten werden musste. Das vorgeschlagene Verfahren zielt darauf ab, aus einem 1-Euro-Job herauszukommen ohne sich einer Sanktion auszusetzen, die bei Nichtantritt oder Abbruch verhängt würde.