Das bundesweite Bündnis AufRecht bestehen weist darauf hin, dass nicht alle Jobcenter in Deutschland den erleichterten Zugang zu existenzsichernden Leistungen und eine vereinfachte Erreichbarkeit der Sachbearbeiter*innen gewährleisten. Da wegen der Corona- Pandemie die persönliche Vorsprache bei den Behörden bis auf wenige Ausnahmen nicht gestattet ist, kommt es oft zu Problemen und Verzögerung bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld II/Sozialgeld. Das führt bei Antragstellenden nicht selten zu existenziellen Notlagen.
Um die durch das neuartige Corona-Virus verursachte Krise und die damit verbundenen materiellen und sozialen Folgen abzufedern, haben Bund und Länder eine Reihe von Hilfen für verschiedene Bevölkerungsgruppen beschlossen. Weitere Schritte, wie z. B. die von den Gewerkschaften vorgeschlagene Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 80% des vorherigen Lohns,sollen zumindest zu einem großen Teil umgesetzt werden. Für Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte gibt es dagegen in der Corona-Krise kaum zusätzliche Unterstützung. Wir nehmen das zum Anlass, um entsprechende Vorschläge aufzugreifen, die im Bereich des DGB und in der Erwerbslosenbewegung diskutiert werden. Diese Vorschläge beziehen sich zunächst auf die jetzige Krise. Sie sollen aber auch aufzeigen, wie das bisher so lückenhafte soziale Netz langfristig verbessert und die Leistungsbewilligung im Amt würdig gestaltet werden kann. Die Vorschläge beziehen sich zunächst auf Hartz-IV bzw. das SGB II. Sie sollten aber nach Möglichkeit auf alle anderen Grundsicherungsleistungen, die der Existenzsicherung dienen sollen – d. h. insbesondere Kinderzuschlag, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII - übertragen werden. Gerade im Asylbewerberleistungsgesetz sind deutliche Verbesserungen nötig, da die Leistungen dort nochmals weit unter den ohnehin schon zu niedrigen Hartz-IV-Regelsätzen liegen.
Die Forderungen: Erhöhung der Regelsätze (sofort um pauschal 100 €); Aussetzen aller Kürzungen; Erreichbarkeit der Ämter verbessern; einfaches Antragsverfahren; zügige Auszahlung der Leistungen; Aufheben von Leistungsausschlüssen. Zu den Forderungen im Einzelnen: Forderungen_zu_Grundsicherungsleistungen.docx
Bündnis fordert: Familien müssen über ihre Ansprüche informiert werden
Das „Familienstärkungsgesetz“ hat in zwei Schritten im Sommer 2019 und zum Januar 2020 die Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT) und den Kinderzuschlag (KiZ) deutlich verbessert. Für den Kinderzuschlag wurden die Anspruchsvoraussetzungen gelockert, sodass viele Familien nun von der Leistung profitieren könnten, wenn sie den KiZ neu beantragen. Gleichzeitig wurden mit dem „Gute-KiTa-Gesetz“ bundesweit ab August letztes Jahr alle Familien, die Wohngeld oder den Kinderzuschlag beziehen, von den Gebühren für Kindertagesstätten (KiTa) befreit. Hinzu kommt, dass wegen der Corona-Pandemie der Zugang zum Kinderzuschlag für anspruchsberechtigte Familien für den Zeitraum vom 1. April bis 30. September 2020 noch einmal deutlich vereinfacht wurde.
Das Bündnis ‚AufRecht bestehen‘ fordert nun alle Kommunen und Landkreise sowie die örtlichen Sozialleistungsträger auf, Familien offensiv über ihre Ansprüche zu informieren. Als zuständige/r Bundesministerin und -minister werden zudem Franziska Giffey (Familie, Senioren, Frauen und Jugend) und Hubertus Heil (Arbeit und Soziales) aufgefordert, dafür zu sorgen, dass bundesweit Informationsmaterial zur Verfügung gestellt und öffentlichkeitswirksam über Leistungsansprüche aufgeklärt wird.
„Den Kinderzuschlag können nach der Gesetzesänderung auch Familien mit geringem Einkommen erhalten, die keine Ansprüche auf SGB-II-Leistungen beim Jobcenter haben,“ erläutert Frank Jäger vom Bündnis ‚AufRecht bestehen‘. „Sie können folglich dort nicht über den Kinderzuschlag und die damit verbundenen weiteren Vergünstigungen aufgeklärt werden.“ Aber nur wer seine Rechtsansprüche kennt, wird bei der Familienkasse den umfangreichen Antrag auf den KiZ stellen. „Aufklärungsarbeit ist hier notwendige Voraussetzung dafür, dass die verbesserte Familienleistung auch bei allen Adressaten ankommt,“ folgert Frank Jäger. Nach den Erfahrungen aus der Sozialberatung ist das vielen Betroffenen aber nicht bekannt. Familien, die den Kinderzuschlag beziehen, haben außerdem Anspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen – allein das führt schon zu einer deutlichen Entlastung.
Sozialer Schutz gegen Folgen von Corona – Antworten auf häufige Fragen - AKTUALISIERT - Stand: 18.5.2020
Inhalt:
- Kurzarbeitergeld;
- Arbeitslosengeld;
- Hilfen für Kleinunternehmer*innen und Solo-Selbstständige;
- Hilfen für Mieter*innen und Besitzer*innen von Wohneigentum;
- Wohngeld;
- Kinderzuschlag;
- Arbeitslosengeld II („Hartz IV“);
- Grundsicherung im Alter und bei dauernder Erwerbsminderung sowie Sozialhilfe nach SGB XII.
Die wirtschaftlichen Folgen der durch das neuartige Corona-Virus ausgelösten Krankheitswelle und der deswegen verhängten Einschränkungen besonders in Bezug auf Geschäftsschließungen in vielen Branchen sind einschneidend. Die Bundesregierung sieht sich nun unter dem Druck drohender Zahlungsunfähigkeit beispielsweise vieler kleiner Selbstständiger und auch der Angst vor einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit gezwungen die bestehenden Sozialleistungen auszubauen, um sie krisenfester zu machen. Außerdem hat sie auch verschiedene Einmalhilfen und zeitlich befristete Sonderregelungen neu eingeführt. Die KOS hat dazu eine Übersicht geschaffen. Sie orientiert sich an häufigen Fragen von Betroffenen und Interessierten.
Schnelle und unbürokratische Antragsbearbeitung notwendig!
Die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) fordert die Arbeitsagenturen, die Jobcenter, die Sozialämter und die Familienkassen auf, Anträge auf existenzsichernde Leistungen wie Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld II (Alg II), Sozialhilfe und Kinderzuschlag schnell und unbürokratisch zu bewilligen und auszuzahlen. Die vielen Einschränkungen des öffentlichen Lebens erfordern es, dass Behörden, die mit der Bewilligung und Auszahlung von existenzwichtigen Sozialleistungen betraut sind, der schnellen Unterstützung Betroffener klaren Vorrang einräumen. Das muss auch gelten, wenn nicht alle Unterlagen vollständig sind oder Einzelheiten des Antrags noch Anlass zu Rückfragen geben. Länger als 14 Tage sollte die Bearbeitung des Antrags außerdem nicht nicht dauern.
Arbeitslose, Niedrigverdienende und ihre Angehörigen haben außerdem in der aktuellen Situation aufgrund der höheren Ausgaben für die Gesundheit und der Schwierigkeiten bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern höhere Kosten als sonst. Sie müssen deshalb sofort einen Mehrbedarfszuschlag von 20% der Regelleistung zu ihren ohnehin schon viel zu knappen Leistungen bekommen.
Angesichts der aktuellen, durch das Corona-Virus geschaffenen Lage zeichnet sich ab, dass es vor allem die Beschäftigten sind, die für die Krise aufkommen sollen. Es ist aber nicht einzusehen, dass nur betroffene Unternehmen weitgehend schadensfrei gestellt werden sollen, während die Arbeitslosigkeit in einigen Branchen stark ansteigt, weil die Unternehmen durch Entlassungen Kosten sparen wollen. Ebenso ist auch nicht einzusehen, dass Menschen mit niedrigem Einkommen durch das knapp bemessene Kurzarbeitergeld von heute auf morgen unter das Niveau ihrer bisher schon bescheidenen Lebensführung gedrückt werden. Wir fordern deshalb auch das Kurzarbeitergeld mindestens für Niedrigverdienende auf 100% des Lohnes anzuheben.
BA erklärt weitgehenden Verzicht auf Termine
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat ihrerseits verlautbart, dass Fragen und Anliegen Betroffener nun auch ohne persönlichen Kontakt geklärt werden sollten, um den Gesundheitsschutz sicherstellen zu können. Gesprächstermine in der Agentur für Arbeit und im Jobcenter würden ab sofort und bis auf weiteres entfallen. Allerdings gäbe es wichtige Ausnahmen: terminierte persönliche Vorsprachen für Barzahlungen wegen Mittellosigkeit sowie bestehende Termine zur Neuantraganstellung und Abgabe von Neuanträgen.
Die Möglichkeit zum persönlichen Kontakt in den Dienststellen solle für Notfälle bestehen bleiben. Eine Arbeitslosmeldung könne aber auch telefonisch erfolgen. Ein Antrag auf Alg II könne formlos in den Hausbriefkasten des Jobcenters oder der Agentur für Arbeit eingeworfen werden. Alle persönlichen Gesprächstermine sollen ohne Rechtsfolgen entfallen. Niemand müsse diese Termine extra absagen.
Betroffene Arbeitslose können also nun Anträge formlos per Mail oder über die eServices auf der Homepage(www.arbeitsagentur.de/eServices) stellen oder in den Hausbriefkasten einwerfen. Sie können außerdem auf der Homepage der jeweiligen Behörde nach einer Telefonnummer suchen, unter der das Amt erreichbar ist – die soll jetzt auch einfacher zu finden sein. Anträge und Weiterbewilligungsanträge auf Alg II können außerdem unter Jobcenter.digital heruntergeladen werden.
Betroffene sollten allerdings unbdeingt bedenken, dass in der Vergangenheit immer wieder Schreiben an das Jobcenter verloren gegangen sind und dass es zu erheblichen Nachteilen kommen kann, wenn sie den rechtzeitigen Eingang von Anträgen und Schreiben nicht beweisen können. Für Telefonate gilt das erst recht. Erst- oder Weiterbewilligungsanträge und Widersprüche sollten daher als Einschreiben ohne Rückschein bei der Post aufgegeben werden. Ein Fax zu senden, ist eine andere und kostengünstige Möglichkeit, sicher Anträge und Schreiben an eine Behörde zu schicken – dann muss man allerdings unbedingt auch den Sendebericht samt der ersten Seite des Faxes ausdrucken und aufbewahren. Alternativ reicht es auch, wenn ein Zeuge oder eine Zeugin, die vorher gesehen hat, welches Schreiben man in den Umschlag gesteckt hat, auch bezeugen kann, wie das Schreiben in Hauspostkasten geworfen wird. Eine E-Mail ist außerdem sicher an eine Behörde zugestellt, wenn diese nachweislich (Postausgang!) an ein elektronisches Postfach einer Behörde gesendet worden ist, die dies ohne Einschränkung für die elektronische Kommunikation bereitgestellt hat (Urteil des BSG vom 11.7.2019 – B 14 AS 51/18 R).
Für Betroffene, die keinen Zugang zu einem PC haben, müssen die BA und andere Behörden nach Auffassung der KOS außerdem unbedingt die Möglichkeit eines einfachen Antrags in Papierform eröffnen. Darüber sollten sie auch alle Betroffenen in mehrsprachigen Schreiben und Aushängen unterrichten.
Gemeinsame Erklärung von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden
Noch in diesem Jahr werden die Regelsätze bei Hartz IV und in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung neu ermittelt. Der Gesetzgeber ist gefordert: Er muss ermitteln, was jemand für eine menschenwürdige Existenz in diesem Land benötigt. Ein breites Bündnis aus Sozialverbänden und Gewerkschaften, dem auch die KOS angehört, fordert, dass die Gelegenheit der Neu-Ermittlung genutzt wird, um soziale Ungleichheit abzubauen. Dazu ist eine sachgerechte Ermittlung des Regelbedarfs unumgänglich, die im Ergebnis zu deutlich höheren Leistungen der Grundsicherung führen muss. Die KOS wie auch die anderen am Bündnis beteiligten Gruppen halten die bestehenden Leistungen in den Grundsicherungssystemen für viel zu niedrig. Aktuell muss eine alleinlebende Person, die z. B. von Hartz IV leben muss, mit einer monatlichen Leistung von 432 Euro plus der Miete auskommen. Das ist schlicht zum Leben zu wenig. Ein Leben in Würde wird den Leistungsberechtigten verweigert, ebenso die soziale Teilhabe in der Gesellschaft. Das Bündnis wendet sich nun brieflich an den Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie an die Mitglieder des Sozialausschusses des Deutschen Bundestages. Die Unterzeichnenden des Briefes fordern von den politisch Verantwortlichen, dass das äußerst kritikwürdige Verfahren, mit dem in den Jahren 2011 und 2016 die Regelsätze bestimmt worden sind, sich nicht wiederholen darf. Stattdessen fordern wir bei der Bemessung der Regelsätze eine Orientierung an den Konsumausgaben der mittleren Einkommen. Die Höhe der Grundsicherungsleistungen darf nicht nur die bestehende Armut widerspiegeln. Die Regelsätze müssen zudem entsprechend der Lohn- und Preisentwicklung jährlich fortgeschrieben werden. Langlebige Konsumgüter, z. B. eine Waschmaschine, die nur in großen Abständen notwendig ist und daher im bestehenden statistischen Verfahren gar nicht richtig abgebildet werden kann, sollten am besten über einmalige Leistungen abgegolten werden. Den ganzen Brief könnt ihr hier lesen20-3-10_Schreiben_Regelsatz_BT.pdf
Der Verlust des Arbeitsplatzes ist ein schwerer Schock. Dabei ist gerade bei bevorstehender Arbeitslosigkeit ein kühler Kopf notwendig, um die Hürden der frühzeitigen Arbeitsuch- und Arbeitslosmeldung zu meistern. Dazu bietet der Ratgeber erste Hilfe.
"Wie wir als Erwerbslosengruppe neue Mitstreiter und Mitstreiterinnen gewinnen und halten können"
Ausgehend von der Jahrestagung 2016 hat die KOS eine Arbeitshilfe dazu erstellt, wie wir als Erwerbslosengruppe stärker werden können, in dem wir neue Leute aus allen gesellschaftlichen Gruppen ansprechen und einbinden: Arbeitshilfe_-_Neue_Leute_gewinnen.pdf
Was können Alg-2-Berechtigte, die aktuell von Kürzungen betroffen oder bedroht sind, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts tun, um wieder etwas mehr Geld in der Tasche zu haben?
Mit Urteil vom 5.11.2019 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die bisherigen Sanktionsregelungen im SGB II zu einem großen Teil als verfassungswidrig anzusehen sind (Aktenzeichen: 1 BvL 7/16). Das Urteil ist für Alg-2-Berechtigte sicher kein Erfolg auf ganzer Linie. Sanktionen bei „Hartz IV“ sind den Jobcentern nicht vollkommen verboten worden. Kürzungen bis zu 30% der Regelleistung hat das Verfassungsgericht weiter prinzipiell ermöglicht. Das Urteil gilt außerdem nur für einen Teilbereich der Sanktionen. Über die Sanktionen beim Verschwitzen eines Meldetermins – die mit weitem Abstand häufigste Sanktion – und über die besonders schlimmen Regelungen für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren hat das Gericht noch gar nicht geurteilt.
Dennoch bleibt festzuhalten: Das Verfassungsgericht hat die Höhe und die Dauer von Sanktionen in bestimmten Fällen begrenzt. Menschen, die aktuell von Kürzungen betroffen oder bedroht sind, haben daher verschiedene Möglichkeiten, um jetzt von der Entscheidung des Gerichts zu profitieren. Welche diese sind, wollen wir im Folgenden mit Hilfe von Mustertexten für die verschiedenen Gruppen zeigen.
1.) Aktuelle Kürzung von mehr als 30% der Regelleistung, wenn der Bescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist (d. h. wenn er noch nicht einen Monat oder länger zugegangen ist):Wer über 24 Jahre alt istund wem das Jobcenter mehr als 30% der Regelleistung kürzt oder demnächst kürzen will, der oder die kann sofort gegen den Sanktionsbescheid vorgehen. Denn das Verfassungsgericht hat die Rechtsgrundlagen für stärkere Kürzungen mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt. Wenn der Sanktionsbescheid noch nicht rechtskräftig geworden ist, bietet sich ein Widerspruch an, der etwa so aussehen sollte:Erste_Hilfe_Sanktionierte_1.doc
Sofern die Widerspruchsfrist bereits abgelaufen ist, aber die Kürzung noch läuft, müsste das Jobcenter eigentlich von sich aus für die Zeit ab dem Urteil die Kürzung auf 30% der Regelleistung verringern. Darauf sollten sich Betroffene aber nicht verlassen. Wir empfehlen einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen. Dann gilt nach § 40 SGB II, dass die Sanktion ab dem Tag des Urteils – also des 5.11. – auf 30% der Regelleistung verringert werden muss. Ein solcher Überprüfungsantrag könnte beispielsweise so aussehen:Erste_Hilfe_Sanktionierte_2.doc
2.) Darüber hinaus hat das Verfassungsgericht auch gerügt, dass es keine Ausnahmeregelung für Fälle gibt, in denen eine Sanktion eine außergewöhnliche Härte für die davon Betroffenen darstellt. Das Jobcenter müsse prüfen, ob so ein besonderer Härtefall vorliege. Das Jobcenter muss also jetzt ein Ermessen ausüben, was es vor dem 5.11. noch nicht musste. Bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte muss der Sanktionsbescheid vollständig aufgehoben werden. Sanktionierte oder von Sanktionierung Bedrohte können nun eine außergewöhnliche Härte durch die Sanktion geltend machen. Je nachdem, ob die Widerspruchsfrist für den Sanktionsbescheid bereits abgelaufen ist, können sie dies im Wege eines Widerspruchs oder eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X einfordern (Mustertexte dazu unten). In der Begründung sollte angegeben werden, worin die außergewöhnliche Härte besteht. Die könnte beispielsweise darin bestehen, dass eine ohnehin schon bestehende konkrete Gefahr von Obdachlosigkeit oder Stromsperre erhöht würde oder dass dadurch ein Vergleich zum Erlass privater Schulden gefährdet wäre. Gleiches könnte auch gelten, wenn das Jobcenter nicht die vollen Kosten für Unterkunft und Heizung anerkennt, so dass Betroffene einen Teil ihrer Unterkunftskosten selber tragen müssen, ohne dies mit anrechnungsfreien Einkommen, einem Freibetrag für Erwerbstätige oder für ehrenamtlich Tätige o.ä. ausgleichen zu können. In diesem Zusammenhang kann auch ein wichtiges Argument sein, dass Kinder im Haushalt leben, die von den Kürzungen mitbetroffen wären, weil „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird.
3.) Nachholen von Mitwirkungspflichten:Wenn die Sanktion darauf beruht, dass
- jemand beispielsweise die Teilnahme an einer Maßnahme verweigert
- oder die Maßnahme abgebrochen hat,
- ohne dafür einen anerkannten “wichtigen Grund“ wie z.B. längere Krankschreibung
oder objektive Ungeeignetheit der Maßnahme geltend machen zu können,
- oder wenn z. B. zu wenig Bewerbungen vorgelegt wurden,
so muss die SGB-2-Leistung wieder in voller Höhe erbracht werden, sobald sich Betroffene entschließen dem Druck nachzugeben. Das bedeutet laut Bundesverfassungsgericht, dass die Sanktion in solchen Fällen spätestens nach einem Monat aufgehoben werden muss. Betroffene sollten nach unserer Ansicht sofort schriftlich ein Ende der Sanktion einfordern. Sie sollten dabei darauf hinweisen, dass sie die verlangten Bewerbungen nachträglich vorgelegt haben oder jetzt doch an der Maßnahme teilnehmen werden. Sofern eine unmittelbare Erfüllung der Mitwirkungspflicht nicht mehr möglich ist, weil beispielsweise ein Einstieg in die laufende Maßnahme nicht mehr möglich ist, sollte glaubhaft versichert werden, dass er bzw. sie bereit ist, an der nächsten folgenden Maßnahme gleichen Typs teilzunehmen.
4.) Für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 („U25er“) gelten besonders schlimme Sonderregelungen. Bei der ersten Sanktion sollen sie nach dem Gesetzestext des SGB II nur noch die Kosten der Unterkunft und allenfalls Lebensmittelgutscheine erhalten, bei einer zweiten Sanktion gar keine Leistungen mehr. Sie werden schlechter behandelt als Erwachsene, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund gibt. Allein deshalb bestehen erhebliche Verfassungsbedenken gegen die erwähnten verschärften Sanktionsregeln für U25er. Darüber hat das Bundesverfassungsgericht bisher noch nicht urteilen können. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 ergibt sich aber, dass den Jobcentern zurzeit Kürzungen von mehr als 30% der Regelleistung grundsätzlich verboten sind. Betroffene, die jünger als 25 Jahre alt sind, sollten daher in jedem Fall gegen die Kürzung vorgehen. Je nachdem, ob die Widerspruchsfrist bereits überschritten ist oder nicht, können sie dies mit einem Widerspruch Erste_Hilfe_Sanktionierte_7.doc oder mit einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X Erste_Hilfe_Sanktionierte_8.doc machen (siehe Mustertexte).
5.) Meldeversäumnisse: Der ganz überwiegende Teil der Sanktionen des Jobcenters beruht darauf, dass Alg-2-Bezieher_innen einen Termin im Amt versäumen oder etwa nicht zu einer amtsärztlichen Untersuchung gehen. Die Kürzung beträgt in einem solchen Fall zwar zunächst „nur“ 10% der Regelleistung. Kommt allerdings binnen eines Jahres ein weiteres Terminversäumnis hinzu, erhöht sich die Sanktion auf dann 20% der Regelleistung. Im schlimmsten Fall können sich die Kürzungen auf bis zu 100% der Regelleistung aufsummieren. Auch über die Verfassungsmäßigkeit der auf Meldeversäumnisse folgenden Sanktionen hat das Verfassungsgericht bisher nicht entschieden. Allerdings folgt aus der o. g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 nach Ansicht der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen auf jeden Fall, dass den Jobcentern ein Aufsummieren der Kürzung über 30% der Regelleistung hinaus verboten ist. Betroffene sollten in diesem Fall unbedingt mit Widerspruch oder Überprüfungsantrag gegen die Kürzung vorgehen (Mustertexte dazu siehe unten). In vielen Fällen bestehen unabhängig von der Entscheidung des Verfassungsgerichts aber auch schon bei Kürzungen von 10% gute bis sehr gute Chancen auf erfolgreiche Gegenwehr. Betroffene sollten unbedingt sofort aktiv werden und sich dazu vor Ort von einer fachkundigen Beratungsstelle beraten und helfen lassen.
6.) Bis zur gesetzlichen Neuregelung: Was tun bei der Anhörung?
Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung des Sanktionsrechts muss das Jobcenter die Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts zwingend beachten. Falls ihr noch keine Sanktion bekommen habt, aber vom Jobcenter angeschrieben werdet, weil dies prüfen will, ob gegen euch in näherer Zukunft eine Sanktion verhängt werden soll, so solltet ihr im Rahmen der Anhörung unter anderem auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verweisen. Beispielsweise, wenn das Jobcenter gegen euch eine Sanktion von mehr als 30% der Regelleistung verhängen will. Oder, indem ihr Gründe für eine besondere Härte der Sanktion (Kinder betroffen, drohende Überschuldung, drohende Obdachlosigkeit, o.ä.) bei euch anführt. Oder auch, indem ihr darauf verweist, dass ihr die von euch verlangte Mitwirkung bereits nachgeholt habet, indem ihr beispielsweise weitere Bewerbungen im Jobcenter vorgelegt habt.